Wurzeln
- Ted Mönnig
- 14. Juli
- 4 Min. Lesezeit
Man schrieb das Jahr 1941. Die Menschen, die hier in der Untersteiermark ihren kargen Lebensunterhalt auf den Feldern und den Weinbergen erarbeiteten, erlebten unruhige, unsichere Zeiten. Wie schon so oft in der Geschichte hatten sie wieder einmal neue Machthaber.
Wechselten sich in früheren Jahrhunderten die Osmanen, Hunnen und mitteleuropäischen Kirchenfürsten ab, so brachten bis zum Ende des letzten Weltkrieges die Habsburger aus dem nahen Österreich so etwas wie Stabilität in die Geschichte des Landes. Doch kaum, dass im großen Deutschland im Norden die Weimarer Republik ausgerufen worden war, fühlten sich auch hierzulande die Machthaber bemüßigt, das politische Gefüge gehörig umzukrempeln. Fortan gehörten sie nicht mehr zu den Herren in Wien, Salzburg oder Graz, sondern fanden sich in einem Gebilde wieder, das den sperrigen Namen „Staat der Serben, Kroaten und Slowenen“ trug. Der zur Vereinfachung neigende Volksmund hatte daraus im Nu den SHS-Staat gemacht, was aber immer noch höchst befremdlich klang. Bis vor einigen Jahren ein gewisser Alexander meinte, dass es genug gewesen sei und das Königreich Jugoslawien ausrief. Aber egal ob sich die Bestimmer Kaiser, König, Bischof oder Führer nennen ließen: die Arbeit war hart wie eh und je, der Rücken schmerzte täglich und das Geld wechselte nur die Farbe, nicht aber dass es hinten und vorne zum Leben reichte. Nun also hatte ein unheimlicher schnauzbärtiger Typ mit höchst befremdlichem Akzent und gefährlichem Größenwahn erst Deutschland, dann Österreich und nach und nach ganz Europa unter seine Knute gebracht. Vor einigen Tagen waren seine Soldaten hier durch marschiert, hatten sich breit gemacht und führten sich auf, wie Eroberer es zu allen Zeiten schon gern taten: sie schikanierten und drangsalierten die Menschen hier, nahmen sich, was sie wollten, begrapschten die Frauen und Mädchen und wer sich beschwerte, bekam die Faust, den Gewehrkolben oder gleich eine Kugel verpasst. Sie gingen von Haus zu Haus und nahmen viele junge Männer mit. Der Krieg verschlang nicht nur diejenigen, die ausgezogen waren, um „Raum für das Volk“ zu ergattern. Er raubte auch die, die im Hinterland gebraucht wurden, um das Volk zu ernähren, die Maschinerie am Laufen zu halten und für Nachschub an den vielen Fronten zu sorgen. Der Führer hat’s bestimmt und alle hatten ihm zu folgen.
Unter denen, die eiligst und mit kaum mehr als dem, was sie am Körper trugen, in gerade verfügbare Waggons aller Art verfrachtet wurden, war auch Johann, ein stiller, in sich gekehrter Bursche von vielleicht gerade einmal zwanzig Lenzen. Er schien den Offizieren kräftig genug, auf dem Feld oder in einer Fabrik zu arbeiten. Nicht dass er es nicht gekonnt hätte, schließlich hatte er während und nach der Schulzeit schon auf dem Weinberg der Familie geschuftet. Sein Körper war nicht mehr der eines hageren Bürschchens; die stetige Mühsal hatte ihn stämmiger werden lassen und die Schwielen an seinen Händen konnten sich schon fast mit denen seines Vaters messen. Aber er war jäh aus seiner Familie, seiner Heimat gerissen worden und nun auf dem Weg in dieses gräßliche deutsche Reich mit seinen brüllenden Menschen, lärmenden Maschinen und den Allmachtsfantasien seiner Herrscher.
Und doch habe ich es genau dieser brutalen Fügung der Geschichte zu verdanken, dass es mich überhaupt gibt.
Alles weitere ist schnell erzählt und ähnelt sehr den Geschichten vieler anderer Menschen, die in jenen Tagen als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt worden sind. Johann gelangt auf einen Bauernhof am Rande von Chemnitz, verliebt sich in ein Mädchen, heiratet und wird Vater einer Schar von Kindern. Eines davon ist mein Vater gewesen.
An Opa Johann habe ich keine Erinnerungen. Er starb, als ich noch ganz klein war. Rein rechnerisch kann er gerade einmal fünfzig geworden sein, vielleicht ein oder zwei Jahre älter.
Wann immer ich als Kind oder Jugendlicher meine Eltern über die Herkunft unseres Familiennamens gelöchert habe, viel Erhellendes kam nicht dabei herum. Die Rede ist dann auf Jugoslawien gekommen und damit hatte sich das Thema auch schon erledigt. Der Name des Landes ist meine ersten zwanzig Jahre negativ behaftet gewesen, weil diejenigen, die zu DDR-Zeiten bestimmten, wo es lang ging, die Entwicklung des Vielvölkerstaates auf dem Balkan und seiner Machthaber argwöhnisch beäugten. Jugoslawien verfolgte einen anderen Weg als die übrigen Staaten des Ostblocks und manchmal hörte ich meinen Vater sagen, dass „die da ganz schönen Mist bauen“. So fragte ich irgendwann nicht mehr danach und die ganze Sache geriet ob der vielen anderen Dinge, die das Erwachsenwerden spannend machten, mehr und mehr in Vergessenheit.
Erst sehr viel später, als die DDR ihren Platz in den Geschichtsbüchern bekommen hatte, erwachte mein Interesse an der Herkunft unserer Familie erneut. Ich hatte durch eine Kombination von Zufällen herausgefunden, dass die Bedeutung unseres Familiennamens sehr frei übersetzt etwa wie „der aus Maribor kommt“ lautet. So konnte ich uns schon mal etwas genauer verorten. Ich wusste auch von einem Bruder meines Vaters, dass er schon dort gewesen ist und in Kontakt mit Johanns Geschwistern stand.
Dir, Onkel Bernd, bin ich an dieser Stelle zu großem Dank verpflichtet, dass Du mich bereitwillig mit umfassenden Informationen zu Slowenien im allgemeinen und zu Maribor, Ptuj und Johanns Heimatdorf versorgt hast. Das hat es mir erleichtert, diese Reise zu planen. Dennoch taugen die besten Pläne nichts, wenn du innerlich nicht bereit bist, überhaupt auf diese Reise zu gehen.
Und so verwende ich dieses Jahr meine Urlaubstage darauf, mich in die Bahn zu setzen und zu den Wurzeln meiner Familie zu reisen. Nicht, um an irgendwelche Türen zu klopfen (wo und wie sollte ich?) und zu sagen „ich bin der und der“, sondern nur zu sehen, wie meine Vorfahren gelebt haben, wo der mir unbekannte Opa aufgewachsen ist und ein Gefühl dafür zu bekommen, was es bedeutet, ein Marinitsch zu sein.
An dieser Stelle möchte ich Euch einladen, in den kommenden Tagen an meinen Erlebnissen teil zu haben.
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