Unterwegs im „heiligen Land“
- Ted Mönnig
- 19. Juli
- 8 Min. Lesezeit

Schon lange, bevor ich eine Reise antrete, liebe ich es, meinen Aufenthalt zu planen. Das ist nicht nur meine Art, meine Vorfreude auszuleben, sondern gibt mir auch das Gefühl, die Gegend, wo ich meine Zeit verbringen möchte, schon vorher etwas zu kennen. Wobei „kennen“ ganz gewiss die falsche Bezeichnung ist, denn man lernt ein Land, eine Stadt oder eine Region bekanntlich erst wirklich kennen, wenn man sich leibhaftig dort befindet. Dazu gehört, mit beiden Füßen auf dem Boden zu stehen, die Beschaffenheit des Untergrundes unter den Sohlen – NICHT den Reifen! – zu spüren, die Luft zu riechen, den Blick in Ruhe schweifen zu lassen und zu sehen, wie sich der Wind in den Baumwipfeln verfängt. Dazu gehört zu wissen, welchem Menschenschlag die Bewohner angehören, was gewiss mehr ist als nur zu wissen, welche Sprache gesprochen wird. Jedenfalls komme ich mit einer halbwegs gescheiten Planung nicht ganz unbedarft an mein aktuelles Traumziel. Sicher kann man nicht alles bis ins kleinste Detail durchplanen und es bedarf noch einigen Raumes für die Blicke abseits des Weges, für Abschweifungen, Improvisationen und spontanes Innehalten. Hatte ich schon mal erwähnt, dass Abenteuer dort beginnt, wo Pläne scheitern?

Die Idee für die heutige Aktivität und feste Absicht ihrer Umsetzung ist eine solche Kopfgeburt der ersten Stunde. Sie hat zu keimen begonnen, als ich von meinem Onkel die ersten Informationen, Tipps und nützlichen Links Slowenien und die Untersteiermark betreffend, empfangen habe, zu einem Zeitpunkt, bevor ich mich gerade einmal darüber informiert gehabt habe, wie ich überhaupt nach Maribor gelange und welche Unterbringungsmöglichkeiten es gibt. Auf dem offiziellen Portal der Kollektivmarke Jeruzalem (www.jeruzalem-slovenija.si) gibt es einige Vorschläge für sehr schöne Rad- und Wandertouren in diesem Gebiet. Die wohl naheliegendste davon ist der über die Grenzen der Region hinaus bekannte Jeruzalem-Rundweg mit seinen gut zehn Kilometern. Nun, wer mich schon ein wenig kennt, wird jetzt schmunzelnd anmerken, dass ich einen Wanderweg nicht gerade zum wandern nutze und mir auch die zahllosen angebotenen Einkehrmöglichkeiten eher schnuppe sind. Der Jeruzalem-Rundweg hat mich sofort gereizt und schon während des Lesens der Tourbeschreibung in seinen Bann gezogen. Das will ich unbedingt machen!

Auf den Weg zu gehen ist das Eine. Zunächst muss ich aber erstmal zu seinem Startpunkt gelangen. Einige Onlinerecherchen später ist mir bewusst, dass ich von Ptuj aus mit dem Zug in die kleine Ortschaft Ivanjkovci fahren und von dort noch etwa vier Kilometer per pedes zurücklegen muss, bevor ich überhaupt einen Fuß auf den Kurs setzen kann. Das scheint mir machbar, auch mit dem Hintergedanken, dass aus den zehn jetzt locker achtzehn Kilometer werden. Ich habe schon andere Herausforderungen gemeistert… zum Beispiel vorgestern. Meinen Erkundigungen zu Folge muss ich den Zug nehmen, der Richtung Ungarn fährt, manchmal lediglich bis nach Hodos, teils auch ganz bis nach Budapest. Er hält direkt in Ptuj, was die Umsetzung etwas einfacher macht. Als ich zum Bahnhof komme, erfahre ich zweierlei: es ist der Zug nach Budapest und er fährt erst in gut einer Stunde. Gut, die Zeit bekomme ich mit einem Spaziergang tot geschlagen. Was mich eher stört, ist der Umstand, dass es schon stark auf die Mittagsstunde zu geht und mir die Sonne schon ganz ordentlich das Dachgebälk aufheizt. Auch das werde ich überleben.
Es sind nur zwei Stationen. Die erste ist Ormož auf kroatischer Seite und Ivanjkovci ist nach gut zwanzig Minuten erreicht und die slowenische Bahn entlässt mich auf einen menschenleeren Bahnsteig. Kurz orientiere ich mich. Eine Feuerwache, ein Kulturhaus, ein paar Wohnhäuser den Hang hinauf. Ich muss in die andere Richtung, die Bahngleise und daneben verlaufende Hauptstraße überqueren und schon heißt mich die Natur mit offenen Armen willkommen. Der asphaltierte Weg führt in sanften Schwüngen auf eine bewaldete Hügelkette zu. Von Weinbau ist hier noch nichts zu sehen, auf den Flächen zu meinen Seiten wachsen Mais, Weizen und manchmal auch einfach Gras. Kleine und größere Baumgruppen sorgen dafür, dass der Blick sich nicht in der Weite verliert. In einer Lücke erblicke ich eine winzige Kapelle.

Nach einer Abbiegung steigt der Weg rapide an und durchquert in schwungvollen Kehren ein Waldstück. Für Schatten sorgen nicht nur die Baumkronen, sondern auch die dicken Wolken, die in der Zwischenzeit aufgezogen sind. Sogar vereinzeltes Donnergrollen ist zu hören. Für Schweißausbrüche sorgt hier eher die Steigung, die schon bald überwunden ist. Hartnäckig halten sich die Gedanken, wie schwerwiegend sich Gewitter in den Bergen auswirken können. Wenn es richtig losbricht, möchte ich weder oben noch unten sein. Der Wald entlässt mich in die nächste Ortschaft und mein Blick wandert zum Himmel. Die Front rückt immer näher und bei der nächsten Bergkuppe ist ein Regenschleier zu erkennen. Die Straße scheint genau in diese Richtung zu führen. Und tatsächlich dauert es nur wenige Minuten, bis die ersten Tropfen fallen und sich das Ganze schnell zu einem kräftigen Guss auswächst. Bei einem Weingut kann ich mich unterstellen. Das Gewitter endet so rasch, wie es eingetreten ist. Es hat willkommene Abkühlung gebracht und der Straßenbelag dampft in der Sonne, die bald wieder unbarmherzig einheizt.

Unterdessen passiere ich das Ortsschild von Jeruzalem. Über die Weinreben hinweg lugt der Turm einer kleinen Kirche. Bis hierher war es Vorspiel, ab jetzt beginnt die eigentliche Tour. Ich habe mir den Rundweg von Komoot in die Garmin-App importiert und lasse mich ab jetzt von der Uhr leiten. Eine ganze Weile klappt das auch gut, solange die Navigation mit den tatsächlichen Wegen übereinstimmt. Blöd wird es, wenn ich schon ein gutes Stück auf dem vermeintlich richtigen Weg bergab gelaufen bin, die Navigation mir aber nach hundert Metern sagt, dass ich falsch bin. Hoppla, wo ist denn die Abzweigung gewesen? Nach der mühseligen Rückkehr an den letzten Punkt sehe ich sie: ein kaum wahrnehmbarer geschotterter Trampelpfad in den Weinberg hinein, mitten zwischen den Rebenreihen hindurch. Eine Winzerin schaut mir neugierig hinterher, grüßt aber noch freundlich. Ich meine sogar ein verschmitztes Schmunzeln wahrgenommen zu haben. So richtig überzeugt, auf dem rechten Weg zu sein, bin ich nicht, aber mein Richtungspfeil und die schwarze Linie auf dem Display liegen übereinander. Im Gras geht es auf und ab, ich muss auf meine Schritte achten, weil der Boden noch leicht rutschig ist. Bis mich eine leichte Vibration am Handgelenk wieder stoppen lässt. Ach nee. Dieses Mal bin ich mir sicher, dass da definitiv keine Abzweigung gewesen ist. Rechts neben mir ist dichter Wald. Laut Navigation müsste ich da hinein. Bleibe ich hingegen auf dem Weinberg, entferne ich mich noch weiter von meiner Route. Mit einem Seufzen entschließe ich mich abermals zu einer Umkehr, natürlich wieder mit Klettereinlage. An dem Punkt, wo ich hätte abbiegen sollen, führt ein überwucherter Pfad ins Dickicht. Nur ärgerlich, dass er schon bald nicht mehr erkennbar ist. Ratlos schaue ich mich um. Weiter geradeaus geht es auf eine kleine, mit Farnen bewachsene Lichtung, jedoch ist kein noch so winziger Trampelpfad zu erkennen. Die Linie mit der Routenführung hingegen deutet auf einen mit Gestrüpp bewachsenen Steilhang. Das kann nicht der Ernst des Erschaffers der Tour gewesen sein. Oder hat er seinerzeit genau wie ich fluchend an der gleichen Stelle gestanden und eine Möglichkeit gesucht, wieder halbwegs griffigen Untergrund unter den Schuhsohlen zu haben? Oder war es ein Scherzkeks, der mit Machete bewaffnet einfach durch die Wildnis gezogen ist und das Ganze dann als Wanderung auf Komoot verkauft hat? Es nützt nichts. Ich nehme den Hang in Angriff und finde mich bald direkt vor einem mannshohen Maschendrahtzaun wieder. Dahinter ist – was wohl? – ein Weinberg zu erkennen. Bestimmt wächst hier eine besonders wertvolle Traube, dass man sie mit Zäunen schützen muss. Anderswo habe ich das noch nicht gesehen. Aber wie nun weiter? Mein Weg scheint auf der anderen Seite des Hindernisses weiter zu gehen. Also muss ich es überwinden, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass ein solches Unterfangen Teil des Jeruzalem-Rundweges sein kann. Mich durch einen Dschungel aus Zweigen und Ranken kämpfend und mit ins Maschengeflecht gekrallten Fingern, um auf dem abschüssigen Gelände nicht abzurutschen, suche ich nach einer geeigneten Stelle. Zwischen zwei Betonpfosten lastet die Vegetation derart schwer auf dem Zaun, dass er durchbiegt. Hier oder nie! Ich greife über die herab gebogene Kante hinweg und springe, so gut es geht, vom Boden ab. Die ersten drei Versuche sind erfolglos, aber es gelingt mir, den Zaun noch weiter durch zu biegen, um so weiter drüber greifen zu können. Mit springen, ziehen und einer gewagten Rolle bin ich schließlich drüben. Es kann weiter gehen. Doch die Freude währt nicht lange. Wenn man in ein eingezäuntes Gelände hinein gelangt, muss man auch wieder hinaus. Diesen Weg versperrt mir ein hohes breites Tor, das mit Kette und Schloss gesichert ist. Drüben grinst mir frech der geschotterte Weg entgegen. Der Versuch, drüber zu klettern ist zum Scheitern verurteilt, weil es dafür zu hoch ist und meine Füße keine Stelle haben, wo sie Halt finden können. Umkehren? Nicht mit mir! Bleibt nur die gleiche Methode wie eben: eine passende Stelle im Zaun finden. Ein paar Meter den Hang hinunter werde ich fündig. Auch hier hat die Natur schon Vorarbeit geleistet und das Geflecht mit eigener Masse so beschwert, dass es zur gegenüberliegenden Seite durchhängt. Auch ich bin im Vorteil, stehe ich doch leicht erhöht und kann mit einigen Fußtritten die obere Hälfte zu einer Art Plattform in die Waagerechte drücken. Sobald der linke Fuß genügend Halt hat, nehme ich mit dem rechten Schwung und lande mit einem gewagten Satz zwischen den Bäumen. Die Welt hat mich wieder. Im Stillen bitte ich den Eigentümer um Verzeihung für zwei kaputte Stellen im Zaun und gönne ihm dafür die Gabe, aus Wasser Wein machen zu können. Schließlich sind wir hier in Jeruzalem.

Ein paar Schritte weiter erreiche ich wieder asphaltierten Untergrund und gleiche fortan die virtuelle Routenführung mit den realen Wegweisern ab. Weitere solche Abenteuer brauche ich heute nicht, mag die Gegend auch noch so schön sein. Wenn man ständig nur auf den richtigen Weg achten muss, verliert man ohnehin den Blick fürs Wesentliche. Den möchte ich nun zurück gewinnen. Die schmale Straße führt in weiten Schwüngen auf das nächste Dorf zu. Zu beiden Seiten reift in langen Reihen der edle Tropfen. Hier hindert mich kein Zaun, eine Traube zu stiebitzen und in den Mund zu stecken. Mein Gesicht verzieht sich: sie schmeckt sauer; es ist noch deutlich zu früh für die Lese, aber sie erfrischt trotzdem und bringt meine gute Laune zurück. Inzwischen ist es wieder sommerlich warm, nichts zu spüren von dem Gewitter, das vor gut einer Stunde hier durch gezogen ist. Es geht abwechselnd bergauf und wieder bergab, immer in kurzen Abschnitten, so dass ich gut wieder in meinen Laufrhythmus komme. Winzerhäuser, Gastwirtschaften, Höfe, Herbergen, dazwischen ein paar Wohnhäuser. Immer wieder Weinberge. Bis ich nach einer Biegung unversehens wieder an der Stelle ankomme, wo meine Runde gestartet ist. Geschafft! Jetzt nur noch den Weg zurück nehmen, den ich gekommen bin und dann hoffen, dass ich nicht allzu lange auf den Zug warten muss, der mich zurück bringt.
Wenn es denn so einfach wäre! An einer Stelle muss ich wohl die Abbiegung verpasst haben, denn ich komme nun durch Dörfer, die ich auf dem Weg hier rauf nicht passiert habe. Die Navigation ist beendet und mangels Internetverbindung komme ich mit Google Maps nicht wirklich weiter. Es zeigt mir lediglich an, wo ich gerade bin und in welche Richtung ich schaue. Mit dieser Information und einer guten Sicht kann ich den ungefähren Verlauf des weiteren Weges bestimmen. Ich bin nicht weit von Ivanjkovci entfernt, werde vermutlich nur an einer anderen Stelle raus kommen als bei der, wo ich los gelaufen bin. Bald erkenne ich den Bahndamm und stoße auf die Hauptstraße, die ich vorhin überquert habe. Dieser muss ich noch ein Stück folgen, dann sehe ich den Bahnhof.
Manchmal hilft eben doch Glaube, um sich im heiligen Land zurecht zu finden. Vor allem der Glaube an die eigenen Fähigkeiten.
Zu guter Letzt:
Natürlich habe ich auch Maribor besucht. Wie könnte ich das versäumen? Immerhin ist diese Stadt mit für meinen Geburtsnamen „verantwortlich“. Um Maribor zu entdecken habe ich mir die gleiche Zeit genommen wie für Ljubljana und diese vielseitige, quirlige Großstadt mit ihrem eigenen Charme hat eine Menge zu bieten. Mein Besuch dort war ein tolles Erlebnis und hätte sicher einen eigenen Beitrag verdient. Ich könnte vielleicht erwähnen, dass alljährlich ein spektakulärer Brückenspringer-Wettbewerb stattfindet, wo sich zumeist junge Herren wagemutig mit seitlich ausgestreckten Armen und Hohlkreuz kopfüber von der höchsten Brücke in die Fluten der Drau stürzen. Möglicherweise schreibe ich meinen Beitrag noch, wenn das Erlebte ein wenig „gesackt“ ist. Für dieses Mal möchte ich es jedoch gut sein lassen. Mögen zunächst die Bilder für sich sprechen.
Kommentare