top of page
  • AutorenbildTed Mönnig

Postbote müsste man sein!

Aktualisiert: 11. Sept. 2023


Nach dem gestrigen Trip bin ich zunächst versucht, heute einen Ruhetag einzulegen und meine zweite Wandertour auf Sonntag zu verschieben, wenn überhaupt. Nachdem ich mehrere Stunden durchnässt und entkräftet auf Wegen, Straßen, an Bushaltestellen und in Bussen verbracht habe, ist mir etwas bange, dass ich mich kurz vor meinem größten Abenteuer erkälten könnte. Mit einer Erkältung zu laufen, ist in höchstem Maße gesundheitsgefährdend und kann sogar lebensbedrohlich enden.


Doch nach einer ausgiebigen heißen Dusche (die Umweltfetischisten unter Euch mögen es mir nachsehen), einer großen leckeren Pizza und einer sehr erholsamen Nacht fühle ich mich frisch und ausgeruht. Gerüstet für meinen heutigen Ausflug.


Ich muss nicht so früh los wie gestern, denn die Tour ist maximal halb so lang und hat auch nur knapp den halben Aufstieg. So reicht es, wenn ich kurz nach neun Uhr den Bus zum Flughafen nehme, wo ich dann in den anderen Bus nach Bøur umsteige, wo ich zu starten gedenke. Gegen halb elf schultere ich mein Gepäck, nicht ohne vorher noch zusätzlich die Regenjacke über zu streifen. Das Wetter ist zwar schon den ganzen Vormittag trocken, aber ich habe meine Lektion gelernt, nämlich dass es binnen Sekunden umschlagen kann. Ein prüfender Blick nach oben sagt mir, dass die Wolken heute nicht so bedrohlich tief hängen. Einige Zacken der umliegenden Berge kratzen jedoch schon daran.


Ich schreite frohen Mutes voran. Bis zum eigentlichen Wanderweg sind es noch gut zweieinhalb Kilometer, die ich auf der Straße zurück legen muss. Oder kann. Je nachdem, aus welchem Blickwinkel ich es betrachte.



Vor mir türmt sich ein furchterregendes Gebirge auf. Die Hänge sind grün und steil. Linkerhand stürzen die Klippen senkrecht hinab. Ich kann nicht glauben, dass man hier als Wanderer ohne Kletterausrüstung hoch kommt. Niemals! Wenn ich versuche, diesen Berg zu erklimmen, rutsche ich rückwärts wieder runter und hauche mein Leben aus, wo die Brecher des Atlantiks schäumend mit dem scheinbar unnachgiebigen Gestein aneinander geraten. Ein ewiger Kampf der Elemente, den immer das Wasser gewinnt, denn es höhlt aus, was sich ihm in den Weg stellt, und sei es noch so hart.



Mit jedem Schritt, den ich dem Ausgangspunkt des alten Postbotenpfades näher komme, spreche ich mir Mut zu. Die vielen Erfahrungsberichte und Wandervorschläge, die ich im Vorfeld lesen konnte, sprechen von einem Weg, den normale, sportlich ambitionierte Menschen mit einer halbwegs guten Kondition gehen können. Es ist natürlich auch die Rede davon, dass man trittsicher und frei von Höhenangst sein soll. Bin ich das? Das Schild am Startpunkt zeigt eine Route an, die sich serpentinenartig den Berg hinauf arbeitet und beim Aufstieg größtenteils aus Grasboden besteht. Es soll „leicht“ sein, was immer ich mir darunter vorstellen darf. Der Abstieg auf der anderen Seite hingegen ist als „herausfordernd“ beschrieben. Packen wir’s!


Es geht auch gleich zur Sache, was die Steigung betrifft. Von unzähligen Füßen geformte Trittstufen im Gras wechseln sich ab mit schmalen Pfaden, die bis zur nächsten Kehre am Hang verlaufen. Hin und wieder ist es matschig, aber auch hier kommt mir die gute Ausrüstung und wohl auch die Erfahrungen der letzten Tage zugute. So komme ich auf meinem Weg rasch voran. Bei einer Steinpyramide begegne ich zwei jungen Frauen, die eine kurze Pause einlegen. Das gibt mir Gelegenheit, kurz durch zu schnaufen und zurück zu schauen.



Was

Für

Ein

Blick!

Tief unter mir kann ich weit in den Sørvagsfjørdur blicken, an dessen Ende sich winzig die Häuser der Kleinstadt Sørvagur in einem Halbkreis am Ufer gruppieren. Die irrsinnig steil aufragenden Zacken der etwas größeren der beiden vorgelagerten Inseln gehören zu Tindholmur, während die kleinere, etwas stufenartig aussehende Gasholmur genannt wird. Beide habe ich inzwischen an Höhe übertroffen. Wende ich mich nach einem kurzen Plausch mit den Mädels nun wieder meinem Aufstieg zu, so kann ich in einiger Entfernung den Wolkenkrone tragenden Buckel von Mykines sehen, wo es heute neblig zu sein scheint. Hier bei mir am Berg ist die Sicht hervorragend, so dass ich, wenn die Umgebung es zulässt, bis zum Gebirgsgrat schauen könnte. Aber ich bin gewarnt. Kräftig pustet es von Süden her und ich bin sogar etwas froh darüber, denn so drücken mich die Luftmassen an die Landmasse. Bleibt zu hoffen, dass keine Böe von der anderen Seite her kommt, die mich von den Beinen holt und runter rutschen lässt. Denn dies hier ist längst keine einfache Wanderung mehr, sondern taugt auch als Schocktherapie für Menschen mit Höhenangst. Mancherorts meide ich Blicke nach links, wenn sich der Pfad allzu sehr dem Abgrund nähert.

Dann bin ich froh über die nächste Rechtsbiegung.



Bei einer weiteren Steinpyramide erreiche ich eine Art geneigte Hochebene, die nach links im Winkel von etwa 45 Grad zum Meer hin abfällt. Hier ist der Wanderweg größtenteils eben und weiter voraus kann ich erkennen, wo er den höchsten Punkt erreicht und danach zum Abstieg am nördlichen Hang wird. Dies ist, abgesehen von den Straßenabschnitten, der entspannteste Teil. Dafür brauche ich auch nicht allzu lange. Und dann erreiche ich den Kamm und mir bietet sich das Bild meiner kühnsten Träume.



Das Dorf da unten trägt den klangvollen Namen Gasadalur. Wenn man ihn ganz langsam ausspricht, sich jede Silbe

GA

SA

DA

LUR

auf der Zunge zergehen lässt wie Kräuterbutter auf einem zarten Rinderfilet, dann bekommt man das Gefühl, der Name scheint einem uralten Wikingerlied entsprungen zu sein. Ich stelle mir eine Gruppe langhaariger muskulöser Riesen vor, die im Kreis um ein Feuer herum stehen und voller Inbrunst GA-SA-DA-LUR singen, dass es von den umliegenden mächtigen Bergen widerhallt. Was für eine majestätische Erfahrung muss es sein, dieses Tal zu sehen, das nach drei Seiten von schroffen grünen Hängen gesäumt ist und nach Westen jäh ins Meer stürzt?



Nach dem gestrigen Fehlschlag weiß ich nun, dass dieser Punkt genau der richtige Ort ist, um den Trail-Explorern hier eine unschlagbare Aussicht zu schenken. Leider hält der Aufkleber nicht auf Stein und das Hinweisschild möchte ich nicht bekleben. Außerdem pfeift der Südwind hier heftig über die Kante, so dass es kaum einen geschützten Ort dafür geben wird. So lege ich ihn ins Gras und beschwere ihn mit einem Stein. Auch diese Methode wird nicht lange ausreichen, ihn hier zu belassen. So bleibt mir nur die Gelegenheit zu einem Erinnerungsfoto und ihn dann wieder in die Tasche zu stecken. Ich möchte ja nicht, dass er fortgeblasen und aufs Meer oder in die Bergwelt getragen wird. Dann ist er nur noch Müll und gehört nicht hierher.




Den Abstieg „herausfordernd“ zu nennen, stellt sich sehr rasch als maßlose Untertreibung heraus. Waren die Nerven beim Aufstieg schon gespannt wie die Saiten von Springsteens Gitarre, so toppt dies alles, was mir in meinem Leben schon begegnet ist. Der Weg, wenn ich ihn denn noch so nennen kann, besteht aus aufeinander getürmten Felsblöcken, über die schmale Rinnsale plätschern und von losem Geröll übersät sind. Ich muss mir jeden Schritt gut überlegen, die Stöcke zum testen und abstützen nutzen und so mancher große Stein stellt sich beim drauf treten als locker, abschüssig, glitschig oder alles zusammen heraus. Große Absätze sind nicht einfach mit einem Hopser zu überwinden, sondern ich muss nach Möglichkeiten suchen, sie möglichst schadlos zu meistern. Jeder falsche Schritt kann mit einem Sturz enden und bei diesem Untergrund kann schon ein Sturz von einem Meter zu einer schweren Verletzung oder im schlimmsten Fall zum Genickbruch führen. So konzentriere ich meinen Blick stets auf den nächsten Punkt, muss aber gleichzeitig mit dem anderen Auge schauen, wie der Weg weiter verläuft. Mal tut er das als gut erkennbarer Streifen aus anthrazitfarbenem Splitt und ohne großes Gefälle, manchmal aber auch als unübersichtliches Gewirr aus rötlichen und grauen Brocken. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, doch als ich wieder Grasland erreiche und auf die Uhr schaue, sehe ich, dass ich erst seit gut zwei Stunden unterwegs bin. Natürlich wird es noch eine gute Weile brauchen, bis ich das Dorf erreiche, doch den schwierigsten Teil habe ich nun hinter mir. An einer Kehre trete ich kurz zur Seite, um einen entgegen kommenden Wanderer vorbei zu lassen. Wir tauschen ein paar freundliche Worte und ich fühle mich bemüßigt, ihm ein paar Ratschläge mit auf seinen Weg zu geben, die er dankend quittiert.



Tatsächlich ist das Dorf Gasadalur (aaahhhh, auch jetzt noch Musik in meinen Ohren) bis vor wenigen Jahren einer der abgeschiedensten Orte der Welt und nur per Helikopter oder über den von mir zurückgelegten Fußweg erreichbar gewesen. Daher rührt auch die Bezeichnung „Postbotenweg“. Bis ins Jahr 2006 ist nämlich der Briefträger hier dreimal die Woche zwischen den beiden Ortschaften hin und her gegangen. Alle Bewohner des Dorfes mussten, wenn sie etwas in den anderen Orten zu erledigen hatten, hier ebenfalls über den Berg. Zu einer Quelle ganz oben auf dem flachen Abschnitt des Weges gibt es die Geschichte eines lebensgefährlich erkrankten Säuglings, der von seiner Mutter zum Arzt nach Bøur gebracht werden musste. Da nach altem Brauch kein Mensch sterben durfte, der nicht getauft war, begleitete ein Priester die beiden und segnete die Quelle kurzerhand, um das Baby zu taufen. Ob es überlebte, ist nicht überliefert.


Seit vor einigen Jahren ein Tunnel durch das Gebirge getrieben wurde, ist es mit der Ruhe und Abgeschiedenheit vorbei. In Strömen kommen die Touristen in Bussen und Mietwagen, fotografieren den berühmtesten, aber längst nicht spektakulärsten Wasserfall Mulafossur der Inseln, gehen ein paar Schritte ums Dorf, lassen sich in dem kleinen gemütlichen Café bewirten und fahren dann wieder ab. Der Blick von dem eigens geschaffenen Aussichtspunkt zum Wasserfall mit dem Dorf und den Bergen im Hintergrund ist eines der bekanntesten Postkartenmotive.

Der Wanderweg ist den meisten zu anstrengend. Umso größer ist mein Respekt gegenüber den beiden Mädels von vorhin, die sich kurz nach mir in dem Café einfinden. Nach ein paar englischen Worten stellt sich heraus, dass sie aus Berlin kommen. Danach palavern wir munter auf Deutsch weiter und tauschen unsere vielfältigen Eindrücke aus.


Als der Bus uns am späten Nachmittag abholt, blicke ich voller Wehmut in dieses zauberhafte Tal zurück. Ich denke, in meinem Ruhestand werde ich hier noch ein Jahr als Postbote arbeiten.

65 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Eine neue Erfahrung

Beitrag: Blog2_Post
bottom of page