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  • AutorenbildTed Mönnig

Ein Tag wie ein Geschenk

Auch wenn ich die Freiheit seit ein paar Tagen nur noch aus einem arg begrenzten Blickwinkel betrachten darf, so ist sie doch da! In ihrer vollen Breite, in ihrer vollen Pracht. Ich muss nur lernen, sie für mich zu entdecken. Schritt für Schritt. Am besten mache ich die ersten Schritte sofort.



So zieht es mich nach dem Frühstück hinaus in den sonnenhellen Tag, dem auch ein paar imposante Wölkchen nichts ausmachen. Große Gewaltmärsche kann ich mir nicht erlauben. Deshalb wende ich mich zunächst nach rechts, die Straße hinab zum Boots- und Fährhafen. Meine ersten Schritte sind langsam und umsichtig und ich fühle, dass es die nächsten und übernächsten auch sein werden. Dann sei es so. Niemand treibt mich an, auch kein Wetter. Da fällt mir noch ein Phänomen ein, das ich hier auf den Färöern staunend beobachten durfte. Man sieht, auch bei heftigstem Regen, auf den Straßen niemand mit Regenschirm. Natürlich sind die Färinger derartiges gewöhnt und entsprechend hart im Nehmen, was sie mir per se schon mal sympathisch macht. Zum Anderen kommt hier der Regen nicht allein daher, sondern oft in Verbindung mit einer ordentlichen Brise. Gestern durfte ich schmunzelnd zwei junge Männer beobachten, als sie das Hotel verlassen wollten. Beide bewaffneten sich vorher noch mit einem Schirm aus den Ständern am Eingang. Kaum vor die Tür getreten, stülpte eine Böe die aufgespannten Schirme um, so dass sie lachend wieder herein kamen, die Schirme zurück stellten und mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen einen zweiten Versuch wagten, den Elementen zu trotzen.


Mit einem zurück blickenden Lächeln passiere ich das Fährterminal und finde mich am Aufstieg zur alten Festung mit dem Leuchtturm wieder. Hier bin ich vor gut einer Woche schon mal gewesen. Trotzdem nehme ich den Weg hinein, weil mir dieser Ort gefällt. Obwohl er von Touristen genauso überlaufen ist wie die Altstadt und mir auch heute, wo gleich zwei Kreuzfahrtschiffe am Kai liegen, auf Schritt und Tritt Leute begegnen, wirkt er beruhigend auf mich. So viel Grün, wenige geduckte Gebäude und ein unschlagbarer Blick aufs Meer und rüber zur Insel Nolsoy, deren riesiger schroffer und assymetrischer Buckel mich immer wieder aufs neue beeindruckt, ganz gleich welch dicke Suppe wieviel von ihm sichtbar macht. Heute offenbart er sich in seiner ganzen majestätischen Größe, sogar die felsigen Klippen etwas oberhalb seiner Hälfte kann ich gut erkennen. Sieh an, meine Augen sind doch noch zu etwas zu gebrauchen.



Nach einem kleinen Rundgang bewege ich mich auf der Strandstraße. So gern ich die Orte meiner ersten Laufrunde hier noch einmal besuchen möchte, es wird zu weit sein. Die Dimensionen meines neuen Lebens sind sehr viel bescheidener, müssen sie sein, bis ich mich soweit daran gewöhnt habe, dass ich mir neue Grenzen setzen darf. So nehme ich die nächste Querstraße stadteinwärts. Die leichte Steigung macht mir nichts aus, die Baustelle zu meiner Linken, die mich auf die Fahrbahn zwingt, schon. Ich meistere das Hindernis mit viel Achtsamkeit und letztlich mit Bravour. Ich bin stolz auf mich!


Mit jedem Schritt, der mich zwischen den niedrigen Häusern hindurch führt, wird mir mehr bewusst, welch Geschenk dieser Tag ist. Draußen an der frischen Luft zu sein. Tageslicht und die schon ein wenig wärmende Sonne zu spüren.


Es ist ein Geschenk gewesen, vorhin auf der Bank in der Festung zu sitzen und die friedliche Stille zu genießen.


Es ist ein Geschenk gewesen, unten bei den Klippen zu stehen und dem immer währenden Geräusch der Atlantikwellen zu lauschen, zu sehen, wie sie am Gestein zerbersten und gleich den nächsten Versuch starten, es zu brechen.


Die glücklichen, lächelnden und teils gerührten Gesichter der Schwestern auf der siebten Etage des Krankenhauses zu sehen, als ich als Zeichen meiner Dankbarkeit einen riesigen Blumenstrauß gebracht habe, ist ebenso ein Geschenk gewesen wie in der Ergotherapie ein Kinderpuzzle zusammen zu stecken und mich wie ein kleines Kind darüber zu freuen.


Es ist ein Geschenk zu wissen, dass das Schicksal für mich morgen auch noch einen Tag bereithält, was immer er bringen mag. Wenn alles planmäßig läuft, kann ich morgen Nachmittag meine Familie in die Arme schließen. So weit wage ich jetzt noch nicht zu denken, weil ich weiß, dass immer alles passieren kann.


Zurück im Hotel entledige ich mich der Jacke und der Schuhe und lasse mich aufs Bett fallen, um etwas auszuruhen. Auch ein Geschenk.


Fast wie Weihnachten.

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