Kyffhäuser Berglauf 2020
- Ted Mönnig
- 15. Sept. 2020
- 11 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Sept. 2020
Schon die Anreise ist ein Erlebnis. Bereits eine Autobahnabfahrt vor meinem Ziel erhebt sich vor meinen Augen der Kyffhäuser wie ein in die Landschaft geworfener, liegender und dicht begrünter Hinkelstein.
Für die Leute, die bisher noch nie was vom Kyffhäuser gehört haben: schämt Euch nicht. Dieses kleine, eher unbekannte Gebirge unmittelbar an der Landesgrenze zu Sachsen-Anhalt bildet einen nördlichen Ausläufer des Thüringer Waldes und geht dann mehr oder weniger nahtlos in das östliche Vorland des Harzes über. Zwischen den beiden weitaus bekannteren Mittelgebirgen kann sowas schon mal unter gehen – aber zu Unrecht!

Ich komme also in prächtiger Stimmung die wenig befahrene A 38 entlang gerauscht, singe lauthals „Whatever you want“ von Status Quo im Radio mit und sehe vor mir die Erhebungen des Kyffhäuser. An der Ostflanke ist schon von weitem das unverwechselbare Denkmal zu erkennen; nahezu mittig auf dem Gipfel thront ein Funkturm, der mancher Großstadt zur Ehre gereicht hätte. Meine Abfahrt heißt Berga und folgerichtig passiere ich diesen Ort, an den mich eigentlich nur die geschlossene Bahnschranke erinnert, schon nach wenigen Minuten. Kaum habe ich die letzten Häuser hinter mir gelassen, führt mich die B 85 über Kelbra immer näher an das stetig wachsende Ungetüm heran. Noch bevor ich mich wundern kann, warum hier ein Biker-Treff ist, sehe ich das Schild. 10 Prozent Steigung, 36 Kurven. Meine Augen weiten sich und werden dafür fürstlich belohnt. Jetzt wünsche ich mir einen Shopper unterm Hintern! Ich kann gar nicht anders, als Kehre um Kehre vorsichtig zu nehmen und immer damit zu rechnen, dass mich eines der Exemplare auf 2 Rädern in furchterregender Schräglage streift. Talwärts kommen sie mir entgegen geschossen, während ich beinahe ängstlich zwischen dem zweiten, dritten und vierten Gang hin und her schalte und auf ihr fahrerisches Können vertrauen muss. Auf der anderen Seite des Kamms geht es auf beinahe die gleiche Weise wieder hinunter, nur dass ich die Schaltung nicht mehr für den Vortrieb sondern mehr als Bremse nutze.
Unversehens habe ich mein Ziel erreicht. Linkerhand weist ein Schild auf eine schmale Seitenstraße hin zu meiner Unterkunft, der Waldgaststätte „Sennhütte“. Draußen im Biergarten hat es sich eine sechsköpfige Gruppe betagter Motorradfahrer bequem gemacht und palavert unüberhörbar von den unzähligen Abenteuern auf 2 Rädern. An einem anderen Tag hätte ich mich gern in die Nähe gesetzt und gelauscht, aber heute habe ich noch etwas vor. Also betrete ich den Schankraum, wo mich ein gut aufgelegter Mittdreißiger begrüßt. Nach kurzem Smalltalk sind wir schon beim Check-in. Es gibt ein paar Informationen, kleines Geld wechselt den Besitzer und binnen Minuten stehe ich in einem schlichten, aber recht gemütlichen Zimmer. Ein Doppelbett, zwei Stühle und ein kleiner Beistelltisch, mehr brauche ich für diese eine Nacht nicht. Die Reisetasche bleibt am Kopfende stehen und ich trete wieder hinaus auf den Flur.

Den offiziellen Fußweg in den Stadtkern, entlang der Bundesstraße, habe ich bereits vor meiner Abreise ausgekundschaftet. Als ich nun vor die Tür trete, fällt mir direkt gegenüber ein schmaler Pfad auf, der sich zwischen Felsvorsprüngen und Bäumen steil den Hang hinauf windet. Ja, das ist doch genau das, was ich mir vorgestellt habe! Ob ich hier auf kürzestem Wege den Ort erreiche, ist gerade vollkommen egal. Befreit auflachend, schlage ich die unverhoffte Richtung ein. Immer weiter geht es himmelwärts; zwischen den Baumkronen blinzelt die Sonne hindurch und zeichnet tanzende Muster auf den Boden um mich herum. Auch ich möchte tanzen, aber der Aufstieg ist auch schweißtreibend, selbst für einen sportlich veranlagten Menschen wie mich. Die spätsommerlichen Temperaturen tun ihr übriges. Gut, dass ich die Jacke auf dem Zimmer gelassen habe. Später, auf dem Rückweg, könnte es im T-Shirt etwas frisch werden, aber das werde ich wohl überleben. An einer Lichtung nimmt die Kraxelei ein Ende. Ein paar vereinzelte Obstbäume und kleinere Erhebungen versperren mir die Sicht ins Tal, wo ich die Stadt vermute, die ich ja heute noch erreichen will. Immerhin geht es schon auf den Abend zu und so wird es wirklich Zeit, mich etwas zielstrebiger zu orientieren. An einer Weggabelung halte ich mich dem Gefühl nach rechts; auf abschüssigem Geläuf schlage ich mich abermals durchs Dickicht. Das öffnet sich alsbald zu einem wahren Prachtblick über das Tal und den Kurort Bad Frankenhausen ziemlich tief unten.

Wie ein lebendiger Stadtplan liegen Straßenzüge, Wohnsiedlungen und Gewerbegebiete ausgebreitet vor meinen Augen. Beileibe kein Fotojunkie, kann ich doch nicht anders als dieses Panorama festzuhalten – mit eher ernüchterndem Ergebnis, wie ich beim Betrachten auf dem Display feststellen muss. Naja, aus mir wird kein Fotograf mehr. Ich hab es eben mehr mit den Worten. Eine Bank lädt zum Verweilen ein. So gern möchte ich mich setzen und das Auge schweifen lassen, aber die Zeit drängt. Gut, dass ich nun zumindest eine klare Richtung habe, auch wenn es ein ziemlich halsbrecherischer Abstieg zu werden verspricht. Und ich habe mich nicht getäuscht. Hat der Weg auf den ersten Metern noch ganz gangbar ausgesehen, so verwandelt er sich nach der nächsten Biegung in das ausgewaschene Bett eines Gebirgsbaches. Bei Starkregen hätte ich jetzt Rafting machen können. So aber taste ich mich vorsichtig von Stelle zu Stelle, von Seite zu Seite und von Stein zu Stein, was auf Dauer bald noch anstrengender ist als der Marsch bergauf vor einigen Minuten.

Übereinander liegende Schieferschichten wechseln sich ab mit weißem kalkartigem Mineral, durchzogen von feinen schwarzen Äderchen. Richtig, diese Region ist für ihre Kali- und Salzvorkommen bekannt, erinnere ich mich. Aber ich hätte nie gedacht, dass dieses weiße Gold so offensichtlich an die Oberfläche tritt.
Der Weg endet an einem Spielplatz, wo einige Kinder und Eltern erstaunt drein blicken, wer da wohl so unbeholfen den Hang herunter kommt, mehr rutschend und stolpernd als wirklich zu Fuß. Nun, meine Ausrüstung ist auch nicht wirklich klettertauglich. Das weiß ich, auch ohne an mir herab zu blicken.

Über einige Nebenstraßen erreiche ich einen weiträumigen Platz, der sich hierzulande Anger nennt. In seiner Mitte parken Autos in mehreren Reihen; die Häuser ringsum sind farbenfroh verputzt oder landestypisch im Fachwerk errichtet. Boutiquen, Apotheken, die Sparkasse, ein Straßencafé. Ich folge dem Wegweiser zur Kyffhäuser-Therme, wo das Veranstaltungsgelände für den morgen stattfindenden Berglauf angelegt worden ist. Genau das will ich mir noch ansehen. Nachdem ich einen Park mit einem Thermal-Freibad passiert habe, sehe ich es schon. Eine mehrere hundert Quadratmeter große eingezäunte Rasenfläche mit einer Bühne, Zelten und Pavillons. Ja, hier passen die knapp eintausend zugelassenen Teilnehmer locker rein. Neben dem Eingangsportal eine Reihe großer Festzelte, wo vermutlich die Startnummern ausgegeben werden. Ohne die wird man wegen der Sicherheits- und Hygienevorschriften nicht aufs Gelände gelassen. Hinreichend informiert lenke ich meine Schritte zu einem Lokal, das mir auf dem Weg hierher schon aufgefallen war, lasse mich im Biergarten nieder und genehmige mir ein reichhaltiges und sehr schmackhaftes Abendessen.

Es dunkelt schon beträchtlich, als ich den Rückweg antrete. Wieder bei der Sennhütte angekommen, bemerke ich, dass die Gruppe Motorradfahrer immer noch in ausgelassener Runde lärmt. Am Nebentisch bestelle ich mir noch ein Köstritzer Schwarzbier. Habe ich vorher noch nie getrunken, aber jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen. Es schmeckt so gut, dass gleich noch ein zweites dazu kommt.
Am nächsten Morgen muss ich früh raus. 6 Uhr vibriert die Uhr. Es gilt, keine Zeit zu verlieren. Mit dem Wirt habe ich tags zuvor ausgemacht, dass mein Frühstück schon gegen 6.30 Uhr bereit steht. Ein fantastischer Service, ist die reguläre Frühstückszeit in dieser Herberge doch erst ab 8 Uhr angesetzt. Ein weiterer Gast, ebenfalls in Laufmontur, sitzt schon am Tisch und lässt es sich schmecken. Die haben hier wirklich an alles gedacht: Brötchen, Wurst, Käse, Obst und Gemüse, ein Glas Orangensaft und natürlich das unvermeidliche gekochte Ei. Die Wirtin kommt alle paar Minuten und fragt, ob sie noch was bringen soll. Total goldig, aber wer soll das alles essen, noch dazu vor einem Halbmarathon? Genau diesen Gedanken spricht meine bis dahin stumme Frühstücksbekanntschaft aus. Wir kommen ins Gespräch und ich erfahre, dass er aus Berlin ist und heute den ganzen Marathon zu laufen gedenkt. Hätte mich in anderen Jahren auch gereizt, aber dieses Mal ist eben alles anders und die Veranstalter mussten die Streckenführung so ändern, dass für die volle Distanz zweimal die Halbmarathon-Runde zu absolvieren ist. Das stelle ich mir schon ziemlich nervig vor: man kommt nach anstrengenden 21 Kilometern endlich wieder im Ort an, hat das Ziel fast vor Augen und muss dann aber erneut auf den kräftezehrenden 9 Kilometer langen Anstieg hinauf zum Kamm abbiegen. Nein, heute reicht mir eine Runde. Mein Gesprächspartner verabschiedet sich, weil der Marathon um 8.30 Uhr startet, während ich erst um 9 Uhr an der Startlinie stehen muss. Aber auch für mich rückt die Zeit des Aufbruchs näher, muss ich doch wegen des zu erwartenden Andrangs möglichst früh die Startnummer holen, damit kein Stress aufkommt. Den kann ich am Tag eines Halbmarathon-Wettkampfes nämlich überhaupt nicht gebrauchen.
Also raffe ich kurz nach 7 Uhr meine Sachen zusammen, bereite die Trinkblase vor, platziere die 2 Gels an gut erreichbaren Stellen und verstaue Portemonnaie, Autoschlüssel und Handy griffbereit. Die große Reisetasche wandert in den Kofferraum und mit forschem Schritt trete ich den Weg hinunter zum Startgelände an. Weil ich gestern schon die Lage gepeilt habe, ist nun nicht mehr mit Orientierungsschwierigkeiten zu rechnen.
Bei der Startnummernausgabe ist alles entspannt. Nur ein weiterer Teilnehmer ist vor mir und die Damen sind flott und freundlich. Überhaupt: wohin ich blicke, ringsum strahlende Gesichter. Nur die Sonne versteckt sich heute hinter einer dichten Wolkendecke, was aber kein Nachteil sein muss. Von der Bühne her sind schon rockige Klänge zu hören, das hebt meine Stimmung nochmals an. Ich nehme auf einer der vielen Bänke Platz und breite den Inhalt des Umschlags mit der Startnummer vor mir aus. Die 3303 habe ich bekommen. Obwohl ich nicht abergläubisch bin, ist die Ziffernkombination mir sympathisch. Ein Tourismus-Journal und einige Gutscheine komplettieren die Sammlung. Zu guter Letzt klimpern die Sicherheitsnadeln auf das Holz vor mir. Ich brauche sie nicht.

Bewegung kommt in die Menschenmenge auf dem Platz. Der Start des Marathonlaufes steht bevor. Erstaunlich viele Läufer strömen in das zusätzlich eingezäunte Areal und noch einige bleiben außen vor stehen, weil die Abstände natürlich eingehalten werden müssen. Weil ohnehin die Nettozeit gemessen wird, geht auch hier alles wohltuend ruhig und ohne Drängelei ab, ganz so wie der hiesige Menschenschlag mit seinem breiten, gemütlichen Dialekt. Der Startschuss fällt, als das halbe Feld schon los gelaufen ist. Die Sprecherin lacht und erwähnt die alljährliche Panne mit der Pistole. Ich muss schmunzeln. Auch bei so großen Veranstaltungen läuft eben nicht alles glatt, obwohl ich den Organisatoren eine erstklassige Arbeit bescheinigen muss. Das was hier unter erschwerten Bedingungen auf die Beine gestellt und durchgezogen wird, ist wirklich professionell.
Auf der Bank mir gegenüber hat sich unterdessen ein Mann von vielleicht 65 Jahren nieder gelassen. Auch er wirkt wie alle hier gelöst und fröhlich. Während ich meine Startnummer am Gürtel befestige, fragt er in meine Richtung, wie es geht. Ich muss lächeln. Ja, es geht mir richtig gut. Wenn schon der gestrige Nachmittag mit der Anreise lang nicht mehr gekannte Glücksgefühle in mir ausgelöst hat, so sind die Momente, die ich jetzt erleben darf, eine nochmalige Steigerung davon. Seit fast sieben Monaten endlich wieder ein richtiger Wettkampf! Endlich wieder echte Läufer um mich herum! Natürlich sind es auch Gegner im sportlichen Wettstreit, aber vor allem sind es Gleichgesinnte, die sich, genau wie ich, einen zweiten Bauchnabel freuen, hier dabei sein zu dürfen. Darüber entspinnt sich ein Gespräch zwischen uns. Es geht auch um die Mutter aller Crossläufe, den berühmten Rennsteiglauf, der im Mai abgesagt werden und einem dieser unsäglichen virtuellen Läufe weichen musste. Oh Mann, wie ist mir das auf den Senkel gegangen. Einige habe ich mitgemacht, aber ohne den Spaß zu empfinden, den die sozialen Zusammenkünfte bei diesen Events mit sich bringen. Die Zeit vergeht wie im Flug und der Start des Halbmarathons wird aufgerufen.

Obwohl mein Herz vor freudiger Erwartung merklich auf Touren kommt, bin ich innerlich ganz ruhig. Es ist dieses herrliche, fast schon verloren geglaubte Gefühl, das ich bei jedem Laufwettkampf unmittelbar vor dem Start verspüre. Mag kommen was will, ich bin bereit!
Das Starterfeld ist noch etwas größer als beim Marathon, aber ich bin einer der ersten und komme deswegen noch gut in das Areal vor dem großen Bogen. Und schon ertönt der Startschuss! Die Läufer vor mir setzen sich in Bewegung, ich schließe mich an. Es ist tatsächlich wieder Wettkampftime! Nur für mich, von allen anderen unbemerkt balle ich die Faust und flüstere YESSS! Beim Verlassen des Geländes zur Strecke hin ist Konzentration gefordert, eine enge Kurve, etwas Stau. Jetzt bloß nicht ins Straucheln kommen! Dann geht es auf den Straßen, die ich gekommen bin, Richtung Ortsausgang. Richtung Berge! Schon direkt nach dem Überqueren der Bundesstraße kommt die erste Steigung. Ach was, die erste! Es ist der Beginn des schier endlos scheinenden Anstieges, vor dem ich mich schon beim Studium des Profils gewarnt gefühlt habe. Die ersten 9 Kilometer geht es fast nur bergauf. Aber es macht mir nichts aus. Die Beine sind frisch, ich fühle mich ausgeruht und die Endorphine tragen mich Höhenmeter um Höhenmeter dem Läuferhimmel entgegen. Wie im Gänsemarsch schlängelt sich die lange bunte Karawane über die steinigen, matschigen, von Wurzeln durchzogenen Wege, die mal breiter, mal schmaler sind. Die ersten fangen schon an zu gehen, dabei haben wir noch nicht einmal drei Kilometer gemacht. Egal, man überholt und wird auch von schnelleren Läufern überholt, die von weiter hinten gestartet sind. Heute geht es nicht um Zeiten und Platzierungen. Heute wird in vollen Zügen genossen! Ein Traum in Grün mit Braun und dem immer noch wolkenverhangenen weißgrauen Himmel hat mich fest im Griff und ich möchte gar nicht mehr aufwachen! Genussvoll ziehe ich die klare kühle Morgenluft durch Mund und Nase und freue mich über jede Biegung und was dahinter kommen mag. Zwei jüngere Frauen überholen mich, in ein Gespräch vertieft. Ich höre das Wort „Flachlandtiroler“ heraus und muss lachen. Ja, bin ich! Aus anderen Gesprächen kann ich entnehmen, dass es … schnief… keuch … röchel … ab Kilometer neun besser werden soll. Besser im Sinne von „kein Anstieg“ oder auch „bergab“. Aber Leute, dafür heißt es doch Berglauf! Ich bin so verliebt in die Berge, dass ich am Ende fast den Punkt verpasse, wo das Gelände in die andere Richtung kippt. Nun muss ich auf die Knochen achten. Bergab laufen ist mindestens genau so anstrengend. Aber der Spaßfaktor ist natürlich enorm, wenn ich mich immer weiter in einen Geschwindigkeitsrausch steigere. Habe ich Kilometer 12 noch in relativ verhaltenen 4:54 min absolviert, sind es beim nächsten schon 4:40 min. Und die Schussfahrt wird noch rasanter: Kilometer 14 schneller als 4:30, der darauf folgende nicht viel langsamer. Ich wage kaum zu bremsen, aber ich müsste es langsam tun. Das ist beängstigend! Glücklicherweise beginnt hier die zweite lange Steigung. Sie ist nicht so lang und auch nicht so steil wie das erste Drittel der Strecke. Nun aber rächt sich das hohe Tempo, das ich angeschlagen habe. Nicht in der Kondition, aber die Muskeln und Gelenke fangen an zu schmerzen. Meine alten Problemzonen – linker Oberschenkel und rechte Wade – beschweren sich lautstark. Was mir noch mehr Sorgen bereitet: das rechte Knie steht in Flammen. Der Schmerz frisst wie ein Feuer darin und schon bald scheint es regelrecht instabil zu werden. Es wackelt und knickt ein, wie ich es noch nie zuvor erlebt habe. Lieber Gott, lass mich bei diesem Lauf nicht aufgeben müssen! Nicht wegen sowas! Es muss doch noch irgendwie weiter gehen! Die Schmerzen werden immer schlimmer, so dass ich doch noch stehen bleibe und den Gliedern eine kurze Verschnaufpause gönne. Die Kuppe ist ohnehin gleich erreicht und dann sind es vielleicht noch zwei drei Kilometer bis ins Ziel. So kurz davor werde ich nicht aufgeben! Natürlich ist es grundverkehrt, Schmerzen zu ignorieren. Aber das tue ich nicht – ich halte sie aus! Und ich werde dafür belohnt: mit traumhaften Blicken über die Täler ringsum, mit einem geradezu rauschhaften Einzug ins Stadtgebiet und packenden Positionskämpfen in auf dem Weg zum ersehnten Zielbogen. Bei der Streckenteilung, wo die Marathonläufer auf die zweite Runde gehen, bin ich noch etwas unschlüssig, ob ich mich richtig entschieden habe. Einerseits reizt es mich ungemein, diese Runde noch einmal zu laufen; andererseits ist es im Hinblick auf meine Gesundheit die richtige Wahl gewesen, den „Halben“ dem „Ganzen“ vorzuziehen.

Und so fliege ich auf den Schwingen des Läuferglücks durch die verwinkelten Gassen meine letzten Meter, bis das bekannte Areal in mein Blickfeld gerät. Ich habe Tränen in den Augen und ich schäme mich ihrer nicht. Die letzte Kurve, die Zielgerade; meine Arme gehen wie von alleine nach oben, ich schreie und es interessiert mich einen feuchten Kehricht, was die Leute jenseits des Zauns von mir denken. Ich habe es geschafft! 22.160 Meter liegen hinter mir, kaum einer davon ging nicht rauf oder runter und ich habe jeden davon ins Herz geschlossen. Wie in Trance registriere ich das Piep-Piep der Zeitnahme, schnappe mir die Medaille, schleppe mich noch ein paar Schritte und sinke schließlich in die Knie. Die Schmerzen, die Erschöpfung lasse ich nun hinter mir. Eine Flut von Emotionen überrollt mich stattdessen. Mein Oberkörper kippt vornüber ins Gras und ich schluchze hemmungslos. Kein Gedanke erreicht mehr mein Bewusstsein. Ich bin leer und doch übervoll. So bleibe ich liegen, bis ich merke, dass mich jemand antippt. Es sind zwei Sanitäter, die sich nach meinem Befinden erkundigen. Noch unter Tränen muss ich lächeln. Mir geht’s bestens!

Comments