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Dschingis-Khan war in der Stadt*

  • Autorenbild: Ted Mönnig
    Ted Mönnig
  • 19. Aug. 2021
  • 2 Min. Lesezeit

Es ist empfindlich kühl und noch fast dunkel, als ich das Rad zur Tür hinaus auf den schmalen Bürgersteig schiebe. Auf den ersten Blick ein normaler Frühlingsmorgen, doch schon nach den ersten Tritten weiß ich, dass es nicht so ist.

Der Himmel im Osten errötet zart ob der Frische und Schönheit des noch jungen Tages. Der Wind raunt mir sein Guten Morgen zu und streichelt mein Gesicht mit kalten Fingern. Ich erschauere, nicht weil ich es nicht mag. Im Gegenteil. So muss sich der legendäre Mongolenfürst gefühlt haben, als er an einem der einsamen Frühlingsmorgen hinaus in die Steppe geritten ist, um in Ruhe den nächsten Feldzug zu planen, über das weitere Schicksal seines Volkes nachzudenken oder einfach mal alleine zu sein. In ähnlicher Mission fühle ich mich nun unterwegs. Jeder Tag birgt unzählige Entscheidungen, jede mit ungewissen Folgen. Auch ich habe Verantwortung den Menschen gegenüber, die mir vertrauen und glauben, daß ich das Richtige tue.

Der Asphalt ist teilweise aufgerissen vom vergangenen Winter, mancherorts nur notdürftig mit tiefschwarzen Flicken ausgebessert. Ich werde zuweilen heftig durchgeschüttelt, was sich besonders schmerzhaft an meinem Sitzfleisch bemerkbar macht. Mit einem Male ist der Untergrund nicht mehr fest, eher lehmig und grasbewachsen; mein Rad ist kein roter Renner mehr, sondern ein schwarzes, wildes Pferd, das mit mir durch die Einöde meiner Heimat stürmt. Der kalte Zug, der mir begegnet, lässt Finger und Gesichtshaut brennen, das Haar ist gewachsen und fliegt wie ein Schleier hinter mir her. Die Häuser beiderseits der Straße verschwimmen zu Silhouetten nebelverhangener Gebirgsketten, der Weg schlängelt sich durch Schluchten finsterster Tiefe. Was einmal Autos waren, erscheint mir nun wie das wilde Leben jenseits aller Ordnung; brüllend und fauchend begleitet es mich auf meiner Reise.


Zarter Dunst bedeckt die Wiesen am Fluss. Ich gebe meinem Ross die Sporen, um den Rausch der Geschwindigkeit noch intensiver zu spüren. Tränen laufen mir übers Gesicht und ohne erkennbaren Grund beginne ich zu lachen. Es platzt hinaus in die lärmumtoste Stille der Morgendämmerung und bahnt sich seinen Weg hinauf in die klare kalte Luft. Fast höre ich mein Echo.


Als ich in der Firma ankomme, bin ich noch immer benommen vom Zauber der vergangenen Momente. Ich mache das Fenster weit auf und inhaliere noch einmal tief. Von weit her glaube ich Hufgetrappel, wildes Wiehern und das Lachen eines freien Menschen zu vernehmen. Obwohl ich ihn nicht sehen kann, winke ich Dschingis-Khan zum Abschied zu.


* Der Satz stammt aus: "Kein Schöner Land" von meinem Lieblingsautor Arno Surminski; die Aufgabe lautete, einen Text zu schreiben, der mit dem letzten Satz eines Romans beginnt.

© Ted Mönnig

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